Sonntag, 11. Februar 2018

Spaziergang in Weisslingen - Bergsturz


Es beginnt ganz leise und unscheinbar. Wie erste Kieselsteine, die ins Rollen geraten und den entfernten Erdrutsch ankündigen, summieren sich die ärgerlichen, bedauerlichen und doch ganz gewöhnlichen, teilweise völlig unwichtigen Ereignisse: der Lieblingsschirm, der liegengeblieben ist, ein verspäteter Zug und ein verpasster Anschluss, eine unachtsame Bemerkung, nicht bös gemeint, ein blödes Missverständnis, ein Missgeschick in der Hektik, der Abschied von einem lieb gewonnenen Kollegen, ein Antwortmail, das nicht rechtzeitig kommt. Banale Alltagsscheissereien eben.

Da rollt ein Steinchen hinunter, dort ein grösserer, und auf der anderen Seite gleich mehrere zusammen. Und man steht da, man sieht sie rollen, versucht den einen aufzuhalten, den anderen abzufangen und die rieselnde Erde festzuhalten. Doch irgendwann sind es zu viele, der Hang beginnt zu wanken, und man wankt mit. Mit aller Kraft stemmst du dich dagegen, greifst verzweifelt nach den Grashalmen und Wurzeln, die sich dir helfend entgegenstrecken. Die Krallen der Trauer aber halten dich längst fest und ziehen dich unweigerlich hinunter.


Du weisst es aber noch nicht, wehrst dich standhaft und zappelst. Versuchst, die Trauer in Wut umzuwandeln, stellst Zielscheiben auf: "sie hat...!" und "er hat nicht...!". Doch wenn du ehrlich mit dir bist, nimmst du die Schiessscheiben wieder runter, denn was passiert hat nichts mir "ihr" und "ihm" zu tun. Du richtest dann die Wut gegen dich selber: "warum habe ich...?" und "warum habe ich nicht....?".  Doch wenn du genug erfahren bist, durchbrichst du auch diesen Kreis von destruktiven Gedanken, denn Selbstvorwürfe sind sinnlos und mehren nur den Schmerz.


So fällst du weiter, immer tiefer zieht es dich jetzt hinunter, unaufhaltbar wird dein Fallen. Du spürst, dass dich die Kraft verlässt, dass die Kraft nicht mehr reicht, dagegen anzukämpfen, und dass alle Grasbüschel, Zweige und Äste dieser Welt dir niemals so viel Halt bieten könnten, dass du nicht fällst. Und irgendwann beginnst du loszulassen. Keine Kraft könnte den freien Fall mehr stoppen. So gibst du auf, lässt los und lässt dich runterziehen. Ganz tief hinunter, bis in den Hades, dort, wo kein Sonnenstrahl sich je verirren wird und sich die Gollums dieser Welt versammeln.


"Go with the flow" heisst es. Nur dass der "Flow" diesmal nach unten führt. Doch, so paradox es klingt und so unvorstellbar es dir im Moment erscheint, dich fallenlassen ist der erste Schritt zur Heilung. Es ist das beste, was du tun kannst. Dem Fluss zu widerstehen, wird dir eh nicht gelingen und dein Leiden nur in die Länge ziehen.


Und wenn du fällst und fällst, und du im Fallen Übung hast, weisst du, dass irgendwann die Talsohle erreicht sein wird. Je eher, desto besser. So tief du auch fällst, die Talsohle kommt immer. Irgendwann schlägst du auf, dann wird es augenblicklich wieder ruhig und still. Du bleibst erst mal noch eine Weile benommen liegen. Beginnst ganz vorsichtig, die Glieder zu bewegen. Prüfst, ob noch alles da und ganz ist. Spürst wieder etwas Kraft zurückkehren. Stehst also langsam auf, ungelenk und wacklig. Klopfst dir den Staub aus deinen Kleidern, schüttelst Schlamm und Erdkrumen ab und schaust dich um. Danach probierst du, einen ersten Schritt zu gehen, und dann behutsam einen zweiten, und dann den nächsten. Und machst dich langsam wieder auf den Weg, der Talsohle entlang. Hochzuschauen und nach der Stelle zu suchen, wo du vorher gestanden bist, macht keinen Sinn. Du bist jetzt hier und musst von hier aus weiter. Es wird noch dauern, bis du wieder an Höhe gewinnst, wie lange, weiss man nicht. Es spielt auch keine Rolle. Wichtig ist nur, den einen Schritt zu machen, der dich ein kleines bisschen weiter weg bringt von dort, wo du gerade stehst.


Langsam dringen Geräusche wieder zu dir durch, du erkennst blass die Farben wieder und spürst die Gräser am Wegesrand, die dich nun liebevoll, sanft tröstend streifen. Die kalte Luft tut gut und erfrischt angenehm das Gesicht. Die Welt um dich herum beginnt sich langsam wieder zu bewegen, du nimmst sie wahr, wirst wieder Teil davon. Sie ist noch da, es ist noch alles da, nichts hat sich verändert. Auch du bist immer noch ganz und da. Die Wunden von dem Sturz beginnen sich schon langsam wieder zu schliessen. Die Narben bleiben, doch man sieht sie kaum, und auch du hast sie vielleicht schon bald vergessen.