Sonntag, 22. Oktober 2017

Fotoreise in die Normandie - Claps

Claps, ausgesprochen wie Klaps, aber mit einem weicheren K, eher wie Klops als Klaps, heisst im Friaulischen, der Muttersprache meiner Mutter, Steine. Der Strand von Étretat besteht aus Claps.





Die Kiesel am Strand von Étretat sind gross, so gross wie Eier, manche auch etwas kleiner, wie überdimensionierte Wachteleier. Das Gehen auf diesen Steinen ist mühsam, das stelle ich gleich am ersten Tag fest, als ich barfuss über diesen Strand zu gehen versuche. Ich finde keinen Halt, die Steine weichen unter meinem Gewicht, neigen sich zur Seite, rollen unter meinen Füssen weg. Ich torkle wie eine Betrunkene, sinke ein wie in Treibsand. Nur dass es kein Sand ist, sondern Tausende, ja Millionen von Kieseln, gross, hart und rund. Rundgeschliffen vom Meer. Ich habe an keinem einzigen eine Ecke, scharfe Kante oder auch nur eine kleine Spitze entdeckt. Es sind Steine, wie in man sie eher in einem Flussbett in gewissen Gebirgstälern im Süden findet, zum Beispiel im Tessin oder im Friaul, als am Meer.



Ich erinnere mich jetzt noch an das Geräusch der Steine in der Brandung: Einzelne "claps", wie das Zusammenschlagen zweier Billardkugeln, kurz und sec, wenn die Welle aufs Ufer trifft. Eine immer grösser werdende Anzahl von "claps-claps-claps", wenn sich die Welle am Ufer zu brechen beginnt. Bis ich zum Schluss keine einzelnen "claps" mehr unterscheiden kann, weil sie in einen lauten, monumentalen Chor übergehen und sich in einem einzigen, steinernen Rauschen vereinigen. Dann hört es sich an, als ob ein Riese einen Sack voller Murmeln über den Strand ausleeren würde.

An der Uferpromenade fallen mir die häufigen Verbotsschilder auf. Sie zeigen eine Hand, die mit Daumen und Zeigefinger ein schwarzes Oval aufheben will. Das schwarze Oval, "Galets", darf man auf keinen Fall mitnehmen, strengstens verboten unter Androhung einer Busse von 90 Euro. Lange rätsle ich, was dieses Oval wohl darstellen soll. Die Kiesel können ja wohl kaum damit gemeint sein... 90 Euro für einen Kieselstein, von denen es hier eine unendliche Anzahl zu geben scheint? Aber was sonst? Vielleicht Möweneier? Ich staune nicht schlecht, als ich später nachschaue: Galets heisst tatsächlich Kieselsteine. Das Rätsel klärt sich weiter, als ich auf einer ausführlicheren Infotafel die Erklärung nachlese: Die Kiesel haben eine wichtige Funktion. Sie schützen die Küste vor Erosion durch das Meer, weil hier die Brandung eine ungeheure Wucht haben kann.



Die Felsen bestehen aus Kreide und Feuerstein. Kreide ist weich und porös, Feuerstein sehr hart. Der Fels erodiert durch den Regen, Gesteinsbrocken fallen runter ans Ufer. Das Meereswasser wäscht die Kreide aus, zurück bleibt der harte Feuerstein, der in der Brandung rundgeklopft wird. Wie lange es wohl dauern mag, bis aus einem Felsbrocken ein so perfekt abgerundeter Kiesel entsteht?


Die Kiesel sind einzigartig, faszinierend, wunderschön. Von weitem sehen sie alle unauffällig und ähnlich aus. Eine Masse an weissen Rundsteinen eben. Doch als ich mir die Zeit nehme und genauer hinschaue, merke ich, dass jeder anders ist: der eine hat ein kreisförmiges, rostfarbenes Muster, der andere blass-lila Einschlüsse, ein dritter mit zwei schneeweissen Kreisen sieht aus der Kopf einer Eule. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, entdecke immer wieder neue. Jeder ist ganz besonders schön, feingeschliffen, abgerundet. Keiner ist wie der andere, und jeder ist in sich vollendet. Ich möchte sie am liebsten alle mitnehmen. Jetzt verstehe ich die Verbotsschilder. Wenn man anfängt zu schauen und zu sammeln, entdeckt man immer noch mehr, noch speziellere, noch schönere.


Und was antwortet der Fotokünstler auf meine Frage, was ich ihm denn mitbringen soll: die leckeren Kekse, eine einheimische Spezialität hier? Oder einen Calvados, ich habe sogar einen in Bio-Qualität entdeckt? "Nein, mach dir bitte keine Umstände, bring mir doch einfach einen Stein mit!"