Donnerstag, 5. März 2015

Trotz Schnee und Grippewelle

Trotz Schnee und Grippewelle hat der Frühling seine ersten Pflöcke bereits eingeschlagen. Natürlich kommt er nicht unerwartet, auch nicht plötzlich. Und doch erlebe ich die Veränderungen, die er mit sich bringt, als eine Reihe wundervoller, kleiner Überraschungen, die mich berühren und mein Glücksgefühl nähren.


Vielleicht beginnt es damit, dass ich eines Abends das Büro verlasse und irritiert bin, weil etwas anders ist also sonst. Die gewohnte Dunkelheit, die mich sonst am Ausgang empfängt, fehlt. Ich schaue zum Himmel: tatsächlich, er ist noch hell. Ein Kontrollblick auf die Uhr zeigt, dass ich mich nicht in der Zeit vertan habe. Die Uhrzeit ist dieselbe, aber die Tage sind länger geworden.



Heute morgen wurde ich vom melodiösen Gesang einer Amsel geweckt, zum ersten Mal seit langem wieder. Ich lausche der flötenden Melodie, die lieblich und kraftvoll zugleich ist. Ein Blick zum Fenster und ein zweiter auf den Wecker beruhigen meine Zweifel: Nein, ich habe nicht verschlafen, draussen ist immer noch dunkle Nacht, und Zeit zum Aufstehen ist auch noch nicht. Ich kuschle mich also noch etwas unter die Decke und geniesse für eine Weile diese sanften, morgendlichen Klänge, die mich ab jetzt für viele Monate beim Aufstehen begleiten werden.



Auf dem Weg zum Bus halte ich immer noch den Blick auf den Boden gerichtet, als liessen Kälte und Dunkelheit sich so überlisten. Dabei fallen mir zunehmend neue Turnschuhe an den Füssen von Jugendlichen auf. Sie haben ungewohnte, intensiv leuchtende Farben - Pink-Rot, Grasgrün und sattes Himmelblau mit knallgelben Sohlen. Wie bunte Kunstblumen durchbrechen sie das Einheitsdunkel der übrigen Winterschuhe und künden fröhlich-keck den Frühling an. Später erkenne ich sie in den Schaufenstern wieder als neue Frühlingskollektion des trendigen Sportschuhherstellers. Sie tragen energiegeladene, verheissungsvolle Namen wie "electric green", "hot lava" und "fireberry pink".



Unterwegs zur Bushaltestelle spielt es heute keine Rolle, dass ich die Handschuhe vergessen habe. Ich spüre, dass die Kälte jetzt sanfter und erträglicher geworden ist. Die Kapuze meiner Windjacke ziehe ich zwar noch hoch, aber mehr aus Gewohnheit als zum Schutz vor Minus-Temperaturen.
Die Schneeberge, die der Winterdienst am Strassenrand hinterlassen hat, werden immer schmutziger. Unter die nassen Schneeflocken mischt sich jetzt häufig auch Regen, der den Schnee schneller schmelzen lässt als die Sonne. Grüne Löcher entstehen in der weissen Schneedecke auf den Feldern, und sie werden immer zahlreicher und grösser. 


Die Sonne scheint nun schon überraschend kraftvoll und stark. Nur im Unterhemd bekleidet sitze ich an der Hauswand, wende mein Gesicht dem Licht zu und lasse mich mich von den Strahlen wärmen. In meinem Kopf höre ich die Stimme meiner Mutter, die mich vor der heimtückischen Verführung der ersten Sonnenstrahlen warnt. Auch das gehört zum Frühling. Ich schliesse die Augen, geniesse die Wärme und lausche dem munteren Gezwitscher der Vögel in den Bäumen.


Die Zeichen, welche die schöne Jahreshälfte ankündigen, mehren sich: Im kleinen Lebensmittelladen verkaufen sie Tulpensträusse, und in der Gemüseecke liegen Zucchini und Kohlraben zwischen den Kisten mit Kohl und Lagergemüse. Sicher dauert's auch nicht mehr lange, bis die ersten Spargeln angeboten werden, zusammen mit den Erdbeeren aus Spanien. Am Fenster flitzen die ersten Jogger in ergonomischen, bunten Anzügen vorbei, und an geschützten Stellen blühen Schneeglöckchen. Die Verkäuferinnen in den Kleidergeschäften ersetzen das monotone Schwarz durch monotone Pastellfarben, Schokoladehasen versprechen frühe Ostern und bald schon werden wir uns wieder über die Zeitumstellung ärgern. Die Nachrichten werden von hohen Wasserständen und Überschwemmungen berichten, die das viele Schmelzwasser verursacht, und Bilder zeigen von Ausflüglern an den ersten warmen Sonntagen. Ackerfrüchte werden hochschiessen, Primeln die Wiesen bedecken und weisse Plastikmöbel im Garten verteilt. Und bald wird der Winter nur noch als vage Erinnerung an eine entfernte Vergangenheit existieren.


Noch ist es zwar nicht ganz so weit, doch wir sehen schon das Licht am Ende des Tunnels und wissen, dass wir auch diesen Winter überstanden haben. Eine Zeit lang werden wir uns noch ein bisschen nackt vorkommen ohne unsere dicken, schützenden Kleider, uns etwas unsicher fühlen in all dem hellen Licht. Zu Beginn werden wir die Dunkelheit noch vermissen, in die wir uns bei Tee und Kerzenlicht gemütlich eingekuschelt und verkrochen haben. Doch schnell werden wir uns wieder umgewöhnen, uns darüber freuen und erleichtert sein, dass die kalte Jahreszeit vorbei ist.