Montag, 13. Januar 2014

Entspannt ins neue Jahr

"Entspannt und sicher ins neue Jahr" - Der Werbespruch der öffentlichen Verkehrsbetriebe lässt mich schmunzeln, denn er passt so gut zu dem, was mich derzeit beschäftigt. Die Feiertage sind vorbei, meine Arbeitsunfähigkeit auch, und der Alltag hat mich wieder. Und mit ihm der Stress. Nicht wegen der Arbeit, mein Stress kommt von innen, ist sozusagen selbstproduziert.

Ich merke, wie fahrig und zerstreut ich bin, wie verzettelt und nervös. Ich fühle mich gestresst und zunehmend unzufrieden. Nebst meiner Arbeit gibt es noch so viel, was ich machen könnte, machen will, muss, sollte, möchte. So viele Möglichkeiten, so viele Angebote, so viel Interessantes und Spannendes, so viel Nötiges, so vieles, was mir gut tun würde, so viele Aufgaben und Pflichten! Eine endlose to-do-Liste in meinem Kopf!



Vor kurzem war ich mit einer Freundin an einer Ausstellung über "Entscheiden". "Im Supermarkt der Möglichkeiten" war der Slogan, der uns durch die ganze Ausstellung begleitete. Gleich zu Beginn kamen wir zu einem Schaukasten mit Pralinen. Darin wurde ein Experiment veranschaulicht, bei dem Probanden in drei Gruppen unterteilt wurden. Die einen bekamen einen Teller mit einer Praline, die zweite Gruppe durfte aus sechs unterschiedlichen Pralinen eine auswählen und die dritte durfte aus dreissig eine auswählen. Am zufriedensten waren die, welche die Wahl zwischen sechs Pralinen hatten. Am unglücklichsten waren die, die gar keine Auswahl hatten. Beeindruckend fand ich aber, dass letztere nicht wesentlich unglücklicher waren als die, die unter dreissig Pralinen auswählen durften bzw. mussten. Eine zu grosse Auswahlmöglichkeit macht also praktisch genau so unglücklich wie gar keine Wahlmöglichkeit. Dieses Zuviel ist es auch, das bei mir den Stress auslöst. "Im Supermarkt der Möglichkeiten" ist es stressig.



Ich erinnere mich an die Zeit nach der Ellbogen-OP. Damals konnte ich nur eins nach dem anderen machen, musste mich auf jede Tätigkeit konzentrieren und jede Bewegung überlegt ausführen. Deshalb war es mir auch unmöglich, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Die Tage verbrachte ich mit den grundlegendsten Aufgaben wie essen, kochen, aufräumen und abwaschen. Mit der Zeit kamen dann kleinere Spaziergänge dazu und, wenn die Zeit noch reichte, ein Stündchen Fotobearbeitung. Mehr lag gar nicht drin. Ich spürte, wie entspannt und zufrieden mich das machte.

Je weiter die Genesung voranschritt, desto mehr konnte, musste und wollte ich wieder tun: Harfe üben, arbeiten gehen, fotografieren, schreiben, Fitnesscenter, einkaufen usw. Je gesünder ich wurde, desto mehr wurde von mir erwartet, und vor allem desto mehr erwartete ich von mir selber. Bis die Tätigkeiten, die mir Spass machten, mich zu stressen begannen.

Eine bessere Organisation ist für mich keine Lösung - darin bin ich bereits Meisterin, und habe dabei doch immer das Gefühl, an Ort und Stelle zu treten. Und am Abarbeiten liegt es auch nicht - die to-do-Liste ist endlos und das Abhaken macht mich weder glücklicher, noch bringt es mich weiter. Etwas weniger Perfektionismus wäre gut. Etwas weniger allgemein. Und das, was ich während meiner Unfallzeit erfahren habe: mich ganz auf den Moment zu konzentrieren und eins nach dem anderen zu machen.



Am Weihnachtsmorgen war ich mit dem Fotokünstler in Greifensee. Es war kalt, grau, windig. Nur eine Handvoll Menschen war im Städtchen und am Seeufer unterwegs. Die wenigen Spaziergänger begrüssten sich freundlich. Eine besondere Stimmung lag in der Luft, sie zeugte von Stille, Besinnlichkeit, Feierlichkeit und Frieden. Diese Stimmung schien alle zu ergreifen und liess uns vom Gefühl her etwas näher zusammenrücken.




Der Fotokünstler und ich machten ein paar Aufnahmen, jeder für sich und doch einer in der Nähe des anderen. Wir brauchten nicht viele Worte, um uns zu verständigen. Wir waren präsent, im Moment, eins mit uns und dem, was uns umgab.


Der Knabe auf dem Steg kennt keinen Stress. Er ist völlig im Moment versunken, geht ganz in seiner Tätigkeit auf und geniesst den Augenblick. Für ihn gibt es jetzt nur all diese Wasservögel und den Spass, den es macht, sie zu füttern. Er spürt die Kälte nicht, kümmert sich weder um vorher, noch um nachher, weder um die wartenden Eltern, noch um die zuschauenden Passanten. Er vergisst alles um sich herum und hat einen riesigen Spass. Es war so schön, ihm zuzuschauen.

Diesen Zustand ganz und für immer zu erreichen, halte ich für eine Illusion. Der Knabe hat keine Verantwortung, die Eltern tragen sie für ihn. Als Erwachsene tragen wir die ganze Verantwortung selber, heutzutage mehr denn jemals sonst in der Geschichte der Menschheit. Doch als ich diese Fotos gemacht habe, war ich nahe dran. Beim Fotografieren geht es mir ähnlich wie dem Knaben beim Füttern der Schwäne.


Ein bisschen loslassen wäre gut, ein bisschen mehr im Moment leben wäre gut, ein bisschen mehr aufs Wesentliche konzentrieren wäre gut. Das tönt nach Neujahrsvorsätzen. Die funktionieren bei mir nicht, deshalb lasse ich es. Das Bild des Knaben aber trage ich in mir und rufe es dann und wann wieder ab, um mich daran zu erinnern.