Dienstag, 29. Oktober 2013

Das erste Mal


Heute ist das erste Mal, seit ich den Ellbogen gebrochen habe, dass ich mich zu einem Foto-Spaziergang aufmache. Ich war schon mehrmals eine Runde spazieren und einmal hatte ich auch schon eine Kamera dabei, doch damals war der Arm noch unbeweglicher. Ich erinnere mich, dass mir die Haare ständig vor die Linse flatterten und ich sie mit dem unbeweglichen Arm nicht zurückhalten konnte. Beim Gehen schlug mir die Kamera immer wieder gegen die Hüfte, und wenn ich sie ab- oder umhängen wollte, war das äusserst umständlich. Das einarmige Fotografieren war so mühsam, dass ich den Spaziergang entnervt abbrach und es bei dem einen Versuch gelassen habe. Doch heute ist die Genesung schon so vorangeschritten, dass ich wieder einen Versuch wage. Mein erster Foto-Spaziergang in Weisslingen!


Das erste Mal! Beim Gehen fällt mir ein, dass es in den letzten Wochen viele "ersten Male" gab:

Das erste Mal, als ich den verletzten Arm wieder so weit beugen konnte, dass ich mit der Hand meine Haare berührt habe. Da habe ich die Beschaffenheit meiner Haare zum ersten Mal wieder ganz bewusst gespürt, als seien es Haare eines anderen Menschen. Das hat mich richtig gerührt!

Das erste Mal, als ich ohne Schutzschiene unter Leute gegangen bin. Zu Beginn war ich ziemlich verkrampft, weil ich Angst hatte, dass mich die Leute im Zug und Tram anrempeln würden.

Das erste Mal, als ich es endlich geschafft habe, den Arm so weit zu beugen, dass ich meine Haare zusammenbinden konnte. Das war nur mit Spezialgummis möglich und ich musste ein paar Tage üben, bis aus der Struwelpeterfrisur eine wurde, mit der ich auch aus dem Haus gehen konnte, aber irgendwann hatte ich auch das geschafft!



Das erste Mal, als ich die Arme vor der Brust verschränken konnte: Ich lag mit Grippe und Schüttelfrost auf dem Sofa. Als ich zwischendurch aus dem Fieberschlaf aufgewacht bin, habe ich plötzlich überrascht festgestellt, dass ich ja unter der Decke die Arme vor der Brust verschränkt halte! Wie schön!

Das erste Mal, als ich mit der linken Hand einen Bissen bis zum Mund führen konnte - zwar nur mit Abwinkeln des Handgelenks und dank der Verlängerung durch die Gabel, aber immerhin.

Das erste Mal, als ich mir die rechte Achselhöhle waschen konnte, ohne mich wie ein Elefant im Zoo unter den laufenden Duschstrahl stellen zu müssen.

Das erste Mal, als ich mir mit beiden Händen das Gesicht gewaschen habe!

Das erste Mal, als ich mich während eines Telefongesprächs auch noch an der Nase kratzen konnte - gleichzeitig, ohne den Hörer ablegen zu müssen.


Ich habe unzählige "ersten Male" erfahren! Die einen kamen plötzlich und unerwartet, andere nach und nach, wieder andere so schleichend, dass ich sie kaum wahrgenommen habe. Ich habe sie immer geschätzt und mich darüber gefreut. Ich kam mir vor wie ein Kind, das seine ersten Schritte macht oder die ersten Worte spricht.
Doch leider bin ich auch fast sofort wieder in den "Automatik-Modus" verfallen. In kürzester Zeit habe ich mich an die neu erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten gewöhnt und sie auch viel zu schnell als "normal" und selbstverständlich vorausgesetzt. Nun sind all die freudigen "ersten Male" schon wieder Automatismen, die ich im Alltag kaum mehr wahrnehme und deshalb auch nicht mehr gleichermassen von Herzen schätze. Nur wenn ich einen Moment innehalte und mich daran erinnere, wie es vorher war, als es nicht ging, und dann der grosse Moment kam, als es dann plötzlich doch wieder ging - dann erfüllt mich das wieder mit grosser Dankbarkeit, Ehrfurcht und Freude!